Recht neu denken und die Zukunft des juristischen Systems gestalten

Aus unterschiedlichen juristischen Hintergründen heraus haben sich die drei HPI D-School Alumni Alisha Andert, Lina Krawietz und Joaquín Santuber im Jahr 2018 zusammengeschlossen, um mit einem Design- und menschenzentrierten Ansatz das Rechtssystem aktiv mitzugestalten. Sie erkannten, dass es Potenzial für Innovation im juristischen Bereich gibt und gründeten ihre Initiative „This is Legal Design“.

 

HPI D-School-Absolventinnen Alisha Andert und Lina Krawietz
Lina Krawietz und Alisha Andert von "This is Legal Design"


Aufgrund von Globalisierung und technischen Neuerungen verändern sich Lebens- und Arbeitsstrukturen auch im Rechtsbereich, wodurch juristische Unternehmen, Kanzleien und Anwält*innen zunehmend mit neuen Herausforderungen konfrontiert sind. Dabei stoßen Legal Design Methoden wichtige Erneuerungen im Rechtssystem an. Im Interview erzählen die drei HPI-Alumni über ihre kreative Arbeit im juristischen Bereich an der Schnittstelle von Mensch, Recht und Technologie.

Im Jahr 2018 habt ihr die Initiative "This is Legal Design" gegründet, mit dem Ziel, Innovation und kreatives Umdenken in der Rechtsbranche zu bewirken. Teil eurer Arbeit ist die Schulung von Kanzleien, Rechtsabteilungen und Anwält*innen in Legal Design. Was versteht man unter Legal Design und wie unterscheidet es sich von Design Thinking?

Legal Design kann heute als Oberbegriff für verschiedene Innovationsansätze gesehen werden, die sich auf die Entwicklung neuer - oder die Veränderung bestehender - (digitaler oder analoger) Produkte, Dienstleistungen und Systeme beziehen, die einen rechtlichen Bedarf lösen. Unter diesem Repertoire an Methoden und Werkzeugen ist Design Thinking ein wichtiger Bestandteil. Aufgrund der großen Verbreitung ist Design Thinking oft der "Einstiegspunkt" und für viele Praktizierende ist das menschenzentrierte Design eine der Säulen des Legal Design. Andere Methoden sind beispielsweise Informationsdesign, Mustersprachen, datengesteuertes Design, Expertendesign, etc.

Neben der Anwendung in der Rechtspraxis ist Legal Design auch eine aufstrebende akademische Disziplin. In den vergangenen Jahren gab es z.B. zwei internationale Konferenzen, bei denen wir die Forschungsarbeit vorgestellt haben, die wir zusammen mit dem HPI-Stanford Design Thinking Research Program durchführen. Wir bleiben nah an der neuesten Forschung des HPI, übersetzen sie in das Legal Design-Konzept und steuern eigene Forschungsergebnisse und Fallstudien bei.

Darüber hinaus kann Legal Design als ein Feld verstanden werden, das Diskussionen um Technologie, Recht und Gesellschaft beeinflusst. Legal Design gibt Richtungen vor und setzt auf verschiedenen Ebenen Prioritäten. In diesem Zusammenhang wurden wir zu verschiedenen Panels und Diskussionsrunden, von Bildung bis Politik, eingeladen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unser Unternehmen aus drei Blickwinkeln heraus wirkt: Wir bieten Dienstleistungen als Berater*innen an, betreiben akademische Forschung und führen einen Think-Tank.  

 

Joaquín Santuber von "This is Legal Design"
Joaquín Santuber von "This is Legal Design"


Auf den ersten Blick passen Recht, Kreativität und Innovation nicht zusammen. Ist es ein Klischee, dass die Rechtsbranche, statt den Fortschritt zu begrüßen, weiterhin auf überwiegend konventionelle Methoden setzt? Welche Beispiele für juristische Innovation durch Legal Design gibt es bereits?

In der Tat ist das Recht ein großes Schiff, und es braucht Zeit und Energie ein Schiff dieser Größe zu steuern. Das Rechtswesen ist ein Netzwerk von privat-öffentlichen Organisationen und Veränderungen erfordern daher ein gewisses Maß an Koordination über einzelne Institutionen hinaus. Trotzdem können wir ein wachsendes Interesse an der Anwendung eines menschenzentrierten Ansatzes für Innovationen innerhalb des Rechtssystems erkennen. Dieses Interesse ist nicht nur in Rechtsabteilungen und Anwaltskanzleien vorhanden, sondern auch im öffentlichen Sektor, der Gesetzgebung und Justizverwaltung.

Innerhalb dieses Systems von Expert*innen – Anwält*innen zu Anwält*innen - wurden oft die Endnutzer*innen der juristischen Dienstleistungen außen vorgelassen. Und mit Nutzer*innen meinen wir hier die Geschäftsleitung in einer Kanzlei, die Mandant*innen oder Bürger*innen. Das ändert sich jetzt. Das Rechtssystem wird immer mehr als Gehilfe für Menschen verstanden, die keine juristischen Sachkenntnisse besitzen und kein "Juristendeutsch" sprechen, aber dennoch Aufgaben zu erledigen haben, die bisher die Einschaltung von Anwält*innen erforderten. Recht ist nicht das Ziel, sondern ein Mittel. Viele unserer Kund*innen stellen sich endlich die Frage: Wie können wir unsere Dienstleistungen so gestalten, dass sie dem Endziel der Kund*innen dienen - über den spezifischen rechtlichen Bedarf hinaus? Wir glauben, dass man mit einem menschenzentrierten Ansatz und Design Thinking am besten auf diese Frage reagieren kann.

Ein klassisches Beispiel für Legal Design-Projekte ist das Konzept der visuellen Verträge. Dabei stechen besonders Comic-Verträge als interessanter Ansatz heraus. In dieser Rechtsneugestaltung geht es um Arbeitsverträge für Obstpflücker*innen auf Farmen in Südafrika. Aufgrund der oft sehr eingeschränkten Fähigkeiten, geschriebenen Text zu verstehen, waren im Kontext der Nutzer*innen – Obstpflücker*innen - normale Verträge unwirksam. Nachdem dieses Problem erkannt wurde, wurden cartoonartige Verträge mit Illustrationen und kurzen Sätzen in Sprechblasen entworfen. Diese machen den Inhalt zugänglich und verständlich.

Wir möchten auch einen Einblick darin geben, was Legal Designer über die Neugestaltung von schriftlichen Regeln und Vorschriften hinaus tun: Wir haben auch an Themen wie der Identifizierung und Definition von Innovations- und Digitalisierungsbedürfnissen einer Großkanzlei gearbeitet, das Design und die Entwicklung einer Legal-Tech-Plattform geleitet, die kleinen und mittleren Unternehmen hilft, durch die Komplexität der COVID-19-Förderprogramme zu navigieren, und das Konzept und die Prozesse für eine digitale Rechtsabteilung in einem Tech-Unternehmen gestaltet. Kürzlich kam ein Kunde mit der Frage zu uns: Wie könnten wir ein Compliance-Programm gestalten, das die Mitarbeiter*innen in einer Kanzlei dazu ermutigt, sich um die "Compliance Health" des Unternehmens zu kümmern?

 

Alisha Andert von "This is Legal Design"
Legal Design Workshop


Welche nachhaltigen Veränderungen im Rechtssystem wünscht ihr euch und wie können diese durch euren Legal Design Ansatz realisiert werden?

Rechtsdienstleistungen, die den Menschen dienen. Das ist eine große Zukunftsvision, aber eine starke Basis, von der aus man starten kann. Das bedeutet, dass juristische Schnittstellen mit Blick auf den nicht fachkundigen Benutzer gestaltet werden. Dies gilt auch für Unternehmen, indem die abteilungsübergreifende Zusammenarbeit verbessert wird und Rechtsabteilungen als „Business Enabler“ und nicht als Hindernis verstanden werden. Bei verbraucher*innenorientierten Diensten sollten rechtliche Berührungspunkte wie AGBs oder Datenschutzrichtlinien eine Quelle des Vertrauens und des Engagements sein - wir kümmern uns um Ihre Daten und Ihre Rechte - und kein Erschwernis. Das ist auch für Gerichte und Streitbeilegung relevant. Eine bessere Justiz und ein System, welches dies repräsentiert, kann dringende menschliche Bedürfnisse lösen und dafür digitale Technologien nutzen.

Wir glauben, dass das Rechtssystem eine fundamentale Rolle in unserer Gesellschaft spielt, die wir manchmal für selbstverständlich halten. In Zukunft können wir viel Wert erschließen, wenn wir es schaffen die Kluft zwischen Gesetz und Bürger*innen zu überbrücken.

Was denkt ihr, wie sich eure Arbeit mit "This is Legal Design" in Zukunft verändern wird? Für welche neuen Herausforderungen würdet ihr gern innovative Lösungen entwickeln?

Unsere Arbeit verändert sich ziemlich schnell, wobei der Rechtssektor - als Spätzünder - die Entwicklungen aufholt, die andere in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten schon gemacht haben. In diesem Sinne greift unsere Arbeit auf umfangreiches Wissen und Erfahrungen aus anderen Bereichen zurück - Technologie im Finanzsektor und professionelle Dienstleistungen im Allgemeinen -, um die Transformation der Rechtsdienstleistungen auf den neuesten Stand zu bringen.

Es gibt noch viel zu lernen. Rechtliche Werte, wie Rechtsstaatlichkeit, Zugang zur Justiz und sozialer Frieden funktionieren jedoch in einem anderen Maßstab und mit anderen Herausforderungen als traditionelle Dienstleistungen. In dieser Hinsicht besteht die Herausforderung nicht nur darin, die Effizienz und die Bedürfnisse der Nutzer*innen zu berücksichtigen, sondern auch die soziale Wirkung. Darüber hinaus geht es um finanzielle Tragfähigkeit, technische Machbarkeit, Benutzer*innenwünsche und soziale Nachhaltigkeit.

 

Kontaktiere Alisha Andert, Lina Krawietz und Joaquín Santuber auf LinkedIn.

Fotos: This is Legal Design

Das Interview führte Anna Dotzek.